26.04.2022 — Aktuelles, Nachberichte, Projekte

Digitale Produktentwicklung – unser Nachbericht zum virtuellen Infotag im März 2022

Vernetzung der Prozesse und damit mehr Schnelligkeit und Kosteneffizienz – das sind die positiven Schlagworte der Digitalisierung. In der Textil- und Bekleidungsbranche kommt nach den ersten Entwicklungsschritten die enorme Verbesserung der Umweltbilanz. In der Praxis der Fashionbranche werden in den letzten Jahren mehr und mehr digitale Wege beschritten. Mit welchen Problemen sie dabei zu kämpfen haben, aber auch welch große Fortschritte hier zu verzeichnen sind – das berichteten namhafte Unternehmen beim virtuellen DTB-Infotag „Digitale Produktentwicklung“ im März 2022.

 

Neben ganz konkreten Einblicken in den Umgang und die Benefits der Digitalisierung für die Firmen gab es für die Teilnehmer der fünfstündigen Onlineveranstaltung auch praktische Handlungsanweisungen für digitales Produktmanagement, Materialerkennung und die technische Umsetzung. Spannend war die Vision für den Retail der Zukunft – hier gibt es bereits erste praktische Erfahrungen mit virtuellen Avataren und digitaler Anprobe.  

Die Grundlage aller 3D-Visionen sei ein valides Datenfundament, so Ton Wiedenhoff, Executive Director Europe, Alvanon Inc. in seiner Einführung in die Digitale Produktentwicklung. Zwar sei das bloße Datensammeln vor allem für die Kreativen der Textil- und Bekleidungsbranche häufig ungeliebte Arbeit, dennoch bauen alle weiteren Möglichkeiten darauf auf.

Es ist ein langer Prozess, den richtigen Weg zu finden, aber es gibt vermehrt Standardisierungsgespräche. Generell gilt, dass die meisten Firmen sich aktuell noch in der Orientierungsphase befinden.

Ton Wiedenhoff, Executive Director Europe, Alvanon Inc.

 

Massive Kosteneinsparung motiviere jedoch überall dazu, Prozesse zu hinterfragen. In den USA sei die Digitalisierung weiter fortgeschritten und Product Lifecycle Management (PLM) und Enterprise Resource Planning (ERP) Systeme bereits Alltag. In Europa müsse man wieder selbst Product Owner werden. Wissen und Handwerk bilden die Grundlage für die digitale Abbildung in modularen Systemen. Wiedenhoff vergleicht hier die Entwicklungen mit der Konfiguration in der Automobilindustrie:

Erfolgreiches 3D braucht zuerst ein Fahrgestell. Wir sollten zuerst eine Bibliothek bauen, mit validierten Daten. Dann müssen wir bei uns allen ein ‚Skillset‘ aufbauen und langfristige Partnerschaften in unsere Lieferketten integrieren.  

Ton Wiedenhoff, Executive Director Europe, Alvanon Inc.

 

Enorme Auswirkungen der Digitalisierung auf die Supply Chain

Gemeinschaftliche Zusammenarbeit aller Partner könne weltweit über Cloudlösungen funktionieren. Wie das konkret bereits heute aussieht, stellten Gerd Willschütz, COO, Color Digital GmbH und Menswear-Designer Tobias F. Müller am Beispiel der Hess Natur – Textilien GmbH & Co. KG vor. Seit 2020 wird dort digitales Farbmanagement umgesetzt. Hess Natur habe eigene Guidelines festgelegt, einen Spektrofotometer angeschafft und alle Farbkarten mit Spektralwerten hinterlegt.

Wichtig ist die Optimierung der Zeitschiene und dadurch, dass ja auch Transport wegfällt, wird auch der Fußabdruck reduziert. […] Es muss eine Verbesserung der Kommunikation zu den Lieferanten und deren Dye Houses geben, damit der Prozess über verschiedene Lieferanten hinweg genormt werden und somit wirklich objektiv bewertet werden kann.

Tobias F. Müller, Menswear-Designer, Hess Natur – Textilien GmbH & Co. KG

 

Hess Natur ist mit vielen unterschiedlichen Produkten und damit vielen spezialisierten Lieferanten auf der ganzen Welt sehr komplex aufgestellt. Als mittelständisches Unternehmen sei es jedoch noch schwer, Standards einzuführen und durchzusetzen. Laut Müller müsse das Ziel sein, digitale Standards nicht nur bei Großkonzernen, sondern in der breiten Masse einzusetzen. Dafür seien Schulungen und der Austausch mit langjährigen Partnern extrem wichtig. Man sammle seit knapp zwei Jahren mit der DMIx MatchBox intensiv Erfahrung, was Messwerte bedeuten und wie man damit in der Praxis umgehen könne.

Das ist das Schöne an dem Prozess, dass man da nirgendwo wirklich das Rad neu erfinden muss, sondern die Färbereien arbeiten seit Jahren digital. Das ist nur etwas, was wir auf der Brandseite lange ignoriert haben. Das Auge war immer der Faktor. Es ist eine sehr low-hanging-fruit jetzt zu sagen, wir stellen das um. Aber es ist auch Changemanagement. Es müssen sich Köpfe bewegen, es muss Motivation geschaffen werden und die Ergebnisse geben einem am Ende recht.

Gerd Willschütz, COO, Color Digital GmbH

 

Jedes Sample, das nicht gefertigt und nicht verschickt werde, weil es ein adäquates digitales Produkt gebe, habe bei den teils gigantischen Zahlen an LabDips große Auswirkungen auf den CO2-Fußabdruck. Langfristiges Ziel von Hess Natur sei es, ein eigenes PLM-System aufzubauen und am Ende komplett ins 3D-Design einzusteigen.

 

Eine weitere Cloudlösung für Farbmanagement und Farbvalidierung stellten Afrah Wyne, Color Specialist, Matrix Sourcing und  Marcus Kaiser, Director Business Development, ColordesQ vor. Auch hier kann über alle Stufen der Lieferkette die Qualität von Farben digital beurteilt werden. Der Prozess starte mit physisch entwickelten LabDips, die mit einem Spektrometer gemessen werden. Diese Spektraldaten werden in die Color Engine hochgeladen und können dort mit unterschiedlichen Lichtarten gemessen und mit der Zielfarbe verglichen werden. Die Ergebnisse werden sowohl als Spektral-Kurven als auch per Drift-Indikator abgebildet.

Es geschieht alles Digital. Von der Zielfarbe über die LabDips bis hin zur letzten Produktionscharge. Es handelt sich hier um einen lückenlosen Prozess, der auch in der ganzen Historie immer nachvollziehbar bleibt. […] Wenn früher die Lieferanten frühestens nach sieben Tagen Feedback zu physischen LabDips erhalten haben, liefert ColorDesQ das alles in Echtzeit. Man kann extrem viel Wartezeit sparen, auf beiden Seiten.

Marcus Kaiser, Director Business Development, ColordesQ

 

Alle digitalen Lösungen im frühen Produktentwicklungsstadium haben, wie eingangs schon erwähnt, eine Gemeinsamkeit: eine enorme Kostenreduktion bei allen Teilnehmern und damit auch großen Einfluss auf die Erfüllung der weltweiten Nachhaltigkeitsziele.

 

Fotorealistische Avatare als Retail der Zukunft?

Nicht nur bei der Herstellung, auch im Retail bietet die Digitalisierung scheinbar grenzenlose neue Möglichkeiten für die Branche. Der Fashion Retailer Peek & Cloppenburg steht aktuell mit NEXR Technologies in engem Austausch, um mit dem Projekt „Virtuelle Anprobe im Einzelhandel“ gemeinsam zu ergründen, wie der Retail der Zukunft aussehen kann:

Unsere Vision ist, dass in der Zukunft hoffentlich jeder seinen eigenen Avatar haben wird. […] Wir setzen auf eine Scankabine, weil wir damit höchst akkurate Daten erstellen können. […] Wir möchten, dass man auf seine Körpermaße direkt Zugriff hat. Wir haben eine dazugehörige Software entwickelt und eine App, die der Kunde installieren kann. Wir wollen, dass dieser Shoppingtwin überall einsetzbar ist. […] Mit der App wird das Einkaufen so zur eigentlichen Experience.

Thomas Richter, NEXR Technologies

 

Bei einem einzigen Scanvorgang mit über 100 Kameras und 40 Tiefensensoren werden exakte Körpermaße erfasst. Die vollautomatische Herstellung des Avatars dauere danach nur noch einige Minuten. Mit dem eigenen Avatar hole man den Kunden da ab, wo der Kaufimpuls am größten sei: Zukünftig soll der Kunde, durch eine Verbindung von Retail und Online, beim Stöbern im Laden das gewünschte Produkt direkt online in der passenden Variante bestellen können.

Weitere Möglichkeiten mit den Kunden in Kontakt zu treten, seien individuell adressierte Newsletter oder perfekt platzierte Barcodes: via Scan wird das im Schaufenster entdeckte Kleidungsstück virtuell anprobiert und im besten Fall direkt bestellt.

Die Liste an neuen Touchpoints mit dem Kunden lässt sich an dieser Stelle um ein Vielfaches erweitern. Digitale Vermessung und ein Überblick über die Kundendaten helfen bei der Vermeidung von Retouren und können zukünftig sogar Überproduktionen vermeiden. Damit sind auch im Retail digitale Lösungen häufig zielgenauer, schneller und kostengünstiger.

 

Weniger Schnittstellen für schlanke Prozesse

Eine effiziente Möglichkeit auf Lieferantenseite direkt die Verwendung der eigenen Produkte und die Bedarfsentwicklung auf SKU-Ebene verfolgen zu können, bietet das, bei der Peter Büdel GmbH verwendete, Modell GTS L:

[Es] wurden die Klagen über Schnittstellen immer lauter. […] Wir mit GTS sind eine Standardisierungsorganisation und eine Brancheninitiative. […] Wenn Sie heute mit Peter Büdel GmbH Daten austauschen möchten, dann sind sie […] darauf angewiesen, sich mit PB zu verbinden, eine Schnittstelle zu bauen.

Andreas Schneider, Geschäftsführer Global Textile Scheme GmbH

 

Mit der standardisierten Datensammlung GTS L könne in Form eines Produktkataloges bestehenden Datenbestände durch einheitliche Verschlagwortung mehrsprachig auf ein einheitliches Format gebracht und die Anzahl der notwendigen Schnittstellen reduziert werden. So würden alle Stammdaten von Faser bis Kreislaufwirtschaft codiert und abgebildet.

Bei der Peter Büdel GmbH sieht man sich digital gut aufgestellt: Kunden profitieren schon heute davon, dass das Unternehmen das Farbmanagement seit Jahren digital hinterlegt habe und alle Trimmings als digitale Objekte zum Einbau in Avatare zur Verfügung stellen könne. Dennoch habe die Organisation der Stammdaten gewaltiges Potential, vor allem in Bezug auf Nachhaltigkeit:

Nahezu jeder Produzent, jedes Brand stellt heute noch seine ‚handgeschnitzten Formulare‘ zur Verfügung. […] Was jedoch weder zeitgemäß noch effizient ist. […] Wir wollen […] das [mit GTS L] deutlich zukunftsfähiger sehen, insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen und Anforderungen an das Datenset jedes einzelnen Produkts.

Christian Büdel, Geschäftsführer Peter Büdel GmbH

 

Anwendung textiler Parameter bei virtuellen Anproben

Die Sammlung und Standardisierung von Daten sind die Hauptaufgaben bei der Digitalisierung in der Textil- und Bekleidungsbranche. Nicht zu vernachlässigen ist jedoch die Anwendung von digitalen Materialparametern und Texturen, erläuterte Simone Morlock, Head of Digital Fitting Lab, Hohenstein Institut für Textilinnovation gGmbH. Der traditionelle Produktentwicklungsprozesse könne nicht eins zu eins digitalisiert werden.

Der Workflow der Simulation ist vermeintlich ganz einfach, aber tatsächlich ist er sehr komplex. Deswegen ist es auch so wichtig über Grundlagen Bescheid zu wissen und Standards zu bilden. Es fängt an mit der Vorbereitung. Ich brauche den Avatar, ich brauche den Grundschnitt, ich brauche verlässliche Materialdaten.

Simone Morlock, Head of Digital Fitting Lab, Hohenstein Institut für Textilinnovation gGmbH

 

Man definiere textil-physikalische Materialparameter, wie Gewicht, Dicke, Dehnung, Biegung, Faltenvolumen und Form, die das textile Fallverhalten in Simulationen bestimmen. Optische Materialparameter, wie die Textur seien für den digitalen Passformprozess nicht relevant, sondern anfangs eher hinderlich. Sie werden erst zum Ende des Produktentwicklungsprozesses eingesetzt.

Die Erfassung digitaler Materialparameter sieht Morlock in der Branche auf einem guten Weg. Dennoch stehen bei der digitalen Produktentwicklung noch große Herausforderungen an: Unterschiede durch Systemalgorithmen, Definition von Mesh-Struktur, Optik von Texturen und die generellen Auswirkungen von Perspektive, Licht und Schatten auf virtuelle Anproben. Die Empfehlung laute, firmenintern Standards festzulegen und zu dokumentieren.  

 

Prof. Dr. Yordan Kyosev, TU Dresden führte im Anschluss aus, wie Materialkennwerte für virtuelle Anproben effizient für unterschiedliche Systeme ermittelt werden können. Aktuell benötige die angebotene Software jeweils verschiedene Daten. Ziel sei es, pro Stoff/Material nur eine Testserie durchführen zu müssen. Diese Ergebnisse werden systematisch abgespeichert und seien dann automatisch für alle CAD-Systeme auswertbar.

Wir sind noch nicht in der digitalen Zeit. […] Man hätte sich gewünscht, ein offenes Format zu haben, für die Materialkennwerte, das von Textilern mitgestaltet und lesbar von allen ist.

Prof. Dr. Yordan Kyosev, Technische Universität Dresden

 


Alle Unterlagen des Infotages stehen für DTB-Mitglieder hier zum Download bereit. Die Zugangsdaten erhalten Sie von uns per Email!


 

White Paper „Digitale Materialparameter“ des DTB

Die Grundlagenarbeit der Hochschulen sei extrem wichtig, unterstrich Moderator Roland Schuler, IB Company KG. Zusammenfassend sind sich alle Teilnehmer des Infotages einig, dass der Aufwand für Standardisierung heute unbestritten groß ist, dennoch sei der Schritt notwendig und werde vielerorts erst (zu) spät gemacht. In Zusammenarbeit mit den genannten Hochschulen, verschiedenen Firmen aus der Industrie, Softwareherstellern und Zulieferern (Stoffhersteller, Knopffabriken) ist deshalb als Hilfestellung das DTB-White Paper „Digitale Materialparameter“ entstanden. Der Leitfaden soll bei der standardisierten Ermittlung und Bereitstellung von Parametern für die 3D-Simulation unterstützen.

Neben der Abbildung von Oberflächen (durch Scans) müssen bei der digitalen Produktentwicklung auch physikalische Materialparameter (wie Stofffall) standardisiert abgebildet werden. Das White Paper gibt einen Überblick über Messparameter, Dateiformate, Implementierungsmöglichkeiten bei Lieferanten und Produzenten und die Anforderungen an CAD-Simulationssoftware. Zielsetzung dabei sollte sein, den Entwicklungsabteilungen der Bekleidungsindustrie fundierte Informationen im besten Fall digitale Dateien zur Verfügung zu stellen, die sowohl Texturen als auch physikalische Materialparameter und ggf. 3D Objekte enthalten, welche in entsprechenden 3D Simulationsprogrammen direkt verwendet und simuliert werden können.

Der Leitfaden für die Zulieferindustrie zur Ermittlung und Bereitstellung digitaler Materialparameter für die 3D-Simulation von Bekleidung ist ab sofort im DTB-Büro für 49€ (DTB-Mitglieder | 89€ für Nicht-Mitglieder) erhältlich. Mailen Sie uns: info@dialog-dtb.de

 

DTB-Veranstaltung „Digitales Farbmanagement“

Im Rahmen unseres DTB-Kompetenzfeldes Produktentwicklung freuen wir uns auf die, thematisch an den Infotag anknüpfende, Veranstaltung unseres Arbeitskreises „Digitales Farbmanagement“ am 8. September 2022.

Digitales Farbmanagement

 

Bereits 2010 wurde der Arbeitskreis „Digitales Farbmanagement“ von Christoph Bergmann (natific AG) zusammen mit Datacolor ins Leben gerufen und diskutiert in regelmäßigen Abständen branchenspezifische Themen und Lösungsmöglichkeiten. Im September laden wir Sie ein zu spannenden Vorträgen namhafter Firmen mit folgenden Themen:

  • Markt Update – was wird schon umgesetzt von den Unternehmen
  • DTB Broschüre Digitales Farbmanagement
  • Praxisberichte von Unternehmen: Transformation des Farbmanagements
  • Thema Farbstoffe: Übertragung der Farben vom Bildschirm auf Textil – was ist machbar

 

Weitere Informationen zur Veranstaltung und die Anmeldung finden Sie jederzeit auf www.dialog-dtb.de. Auf unserer Website finden Sie auch unsere Jahresübersicht über alle aktuell geplanten DTB-Termine. Bei Fragen sind wir gern persönlich für Sie da via Email an info@dialog-dtb.de oder telefonisch unter 089 – 9013 9788

 


Unsere Pressemitteilung zum Thema finden Sie hier zum Download: PressemitteilungDTB_Infotag NachberichtDigitale Produktentwicklung_27042022